Erstes Kapitel
Mittwoch, 1. November 2006. Allerheiligen.
In der Nacht, als
der englische Unternehmer John Becker ermordet wurde, tanzte ich auf lateinamerikanische
Musik und trank Caipirinhas in einer Strandbar am Playa de las Teresitas in Santa Cruz de Tenerife, fernab aller
polizeilichen Angelegenheiten, mit leerem Handyakku und glücklich darüber, dass
am nächsten Tag, also heute, Feiertag war. Wir feierten den Geburtstag eines Arbeitskollegen
aus dem Büro von Präsident Adán Martín, als dessen Bodyguard ich weiter tätig
war. Währenddessen machte der Mann, der zusammen mit seiner Freundin, der
Brasilianerin Malena Donoso, ermordet werden würde, auf der anderen Seite der
Insel, im Süden, einen Spaziergang am Meeresufer. Wie wir später bei den
Ermittlungen nach dem Mord herausfinden würden, pflegte er dies jeden Abend zu
tun, so wie alle Briten, die Teneriffa besuchen, auf der Suche nach frischer
Luft und der Wärme des Meeres spazieren gehen. Die beiden wurden kaltblütig
ermordet. Es war ein anscheinend unmotiviertes und unbeabsichtigtes Verbrechen,
das erhebliche Auswirkungen auf den Tourismus, den wichtigsten Wirtschaftszweig
der Insel, haben könnte.
Da man mich bei
Bekanntwerden des Verbrechens nicht lokalisierte, wurde der Mordfall zunächst
von der Mordkommission des Kommissariats Adeje, im Süden der Insel, übernommen.
Als es meine Chefin schließlich gelang, mich zu wecken und schreiend meinem
Kater zu entreißen, der nicht etwa für mich üblich war, sondern darauf zurückging,
dass ich heute nicht arbeiten musste, bat sie mich in Anbetracht der
Staatsangehörigkeit der Opfer – einer 25-jährigen Brasilianerin und einem
bekannten englischen 55-jährigen Unternehmer –, den ganzen Schlamassel und die
Leitung der Ermittlungen zu übernehmen.
So erfuhr ich als
Erstes, dass sie im Beachclub am Meer ermordet worden waren. Ich bat meine Chefin
um 15 Minuten, um reagieren zu können. Im Versuch, mich von den nächtlichen
Exzessen zu erholen, trank ich meinen ersten Kaffee an diesem Morgen am Fenster
meines Apartments in der Avenida Marítima de Santa Cruz und schaute zu, wie die
strahlenden Wellen ans Ufer gelangten und die Hafenaktivität wie jeden Morgen voll
im Gange war. Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg in mein kleines weißes
Wohnzimmer voller Bücher, und die schimmernde Helligkeit blendete mich.
Ich habe mich von den Orten, an denen ich bisher gelebt habe, immer angezogen
gefühlt, von den Häusern und von den Stadtvierteln. Mich überkam große Freude,
wenn ich in meiner Hosentasche den Wohnungsschlüssel spürte, denn so klein die
Wohnung auch sein mochte, sie gehört mir, nur mir und niemandem sonst. Und ich
hatte jetzt hier, genau wie in anderen Lebensabschnitten in Bilbao oder London,
meine Bücher und damit alles, was ich brauchte – so dachte ich zumindest –, um
zu sein, wer ich sein wollte.
Trotz meines
Katers und der leichten, aber anhaltenden Kopfschmerzen war es ein
wunderschöner Morgen. Große Schiffe fuhren ein und aus, ein herannahender
Kreuzer und die Fähre, die Teneriffa mit Las Palmas verband, bewegten sich
gleichzeitig mit unglaublich wendiger Drehung durch die schmale Hafeneinfahrt.
Weiter links stachen die Anfänger der Segelschule Teneriffa mit weißen Segelbooten
ebenfalls früh in See, genau wie einige Fischerboote aus dem kleinen Viertel Valleseco,
das auf wundersame Weise vertikal am Berg hing. Noch etwas weiter warfen andere
Angler ihre Angeln an den verlassenen Molen aus. Von meinem schläfrigen
Erwachens nichts ahnend war das Seeleben auf der Insel schon in vollem Gange. Noch
einen Kaffee, eine kalte Dusche und ich war bereit, einen neuen Fall zu
übernehmen.
Ich heiße María
Anchieta, bin 37 Jahre alt und Spanierin und Ermittlungsbeamtin der Polizei. Ich
wurde zwar im Baskenland geboren und wuchs dort auf, wurde aber vor einigen
Jahren auf die Insel Teneriffa versetzt. Der Umfang der polizeilichen Arbeit
hängt immer von meiner Chefin, Kommissarin Marina Tabares, ab, und von den
Straftaten, die mit Ausländern oder mehreren Ländern verbunden sind und auf die
ich mich dank meiner Sprachbegabung und vor allem meiner Englisch- und
Portugiesisch-Kenntnisse spezialisiert habe. Mein Vater und ein Teil der
Familie leben nämlich seit Jahren in Brasilien. Außerdem bin ich Anwältin und
habe einen Doktor in Geschichte, weshalb ich für komplizierte Fälle eingeteilt
werde, für die die spanische Nationalpolizei eine Elitegruppe geschaffen hat,
auf die sie bei Bedarf zurückgreift. Sie besteht aus einer Art Spezialagenten
und ist auf die globalen Straftaten zugeschnitten, die heutzutage begangen
werden. Man Leben war in der letzten Zeit etwas seltsam verlaufen, das ich die
reine Polizeiarbeit mit der Tätigkeit als Bodyguard für den kanadischen
Regierungspräsidenten Adán Martín kombinierte. Alles hatte mit einer vorübergehenden
Vertretung für vier Monate angefangen, die bereits drei Jahren andauerte und mich
in die schwierige Welt der Politik führte, in der die Verbrechen keine
Blutspuren hinterließen, sondern andere, chaotischere Spuren, deren wahre
Dimension fast immer und unergründbar war.
Doch zurück zu den
aktuellen Geschehnissen. Im Süden Teneriffas begann der Tag überschattet vom
Mord an zwei Touristen im elegantesten und erlesensten Beachclub der Insel. Der
Beachclub Las Rocas gehört zum Hotel Jardín Tropical, das Eigentum des
mächtigsten, kosmopolitischsten und intelligentesten Medienunternehmers Spanien,
Jesús de Polanco, war.
Nachdem er das
Füllsystem für den Salzwasserpool im Beachclub gestartet hatte und das Wasser
bereits einlief, verfuhr der erste Poolpfleger an jenem unheilvollen Morgen wie
üblich und wollte überprüfen, ob sich der Pool richtig füllte, als er plötzlich
zwei völlig blutüberströmte Leichen auf dem Boden vorfand. Das Meerwasser
schoss schnell herein und die Leichen fingen an, leicht zu treiben. Der Mann schaltete
die Maschine schnell aus, aber die Oberfläche war bereits vom leichten Rosa des
verdünnten Bluts überzogen. Er rief seinen Vorgesetzten im Hotel an, der
wiederum die Lokalpolizei in Adeje anrief, und die wiederum die Nationalpolizei.
Als der Fall in meine Hände geriet, hatten die Kriminaltechniker den Tatort
bereits zu sehr zertrampelt, als dass man den Pool wieder hätte benutzen
können. Der für den Fall zuständige Richter hatte die Leichen schnellstmöglich
und in aller Eile mit der Ausrede freigegeben, es sei eine touristisch sehr
beliebte Gegend, und hatte damit später für viele Probleme bei den Ermittlungen
und zusätzliche Schwierigkeiten bei der Suche nach soliden Beweisen gesorgt. Trotzdem
wurde der Pool erst am Abend wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ich
sah die Leichen Stunden später im Leichenschauhaus, als bereits die erste Obduktion
vorgenommen worden war. Als ich in der Leichenhalle eintraf, führte man mich
hinter einen Vorhang. Die Toten lagen auf Stahltischen und waren bis zum Kinn
mit weißen Laken bedeckt. Der Mann hatte eine graue Haut und die Nase voller
geplatzter Äderchen, die auf seine Liebe zum Wein hinwiesen. Die Tote
hatte eine gebräunte, zarte Haut und war selbst jetzt noch wunderschön. Sie
schien zu schlafen, statt tot zu sein, wie eine Märchenprinzessin, doch
natürlich konnte ich nicht das kleinste Anzeichen einer Atmung bemerken. Ich
lass den provisorischen Bericht des Gerichtsmediziners, der neben einer der
Leichen hing:
„Todesursache:
Beiden wurde mit einem Gegenstand ins Herz gestochen. Ihr Tod trat am Dienstag
den 31. Oktober 2006, zwischen vierundzwanzig Uhr nachts und drei Uhr morgens
ein. Der Mann, der als John Becker identifiziert wurde, zeigte Kampfspuren; er
hatte drei abgebrochene Fingernägel und Schnittwunden an Armen und Händen und war
vermutlich langsam gestorben. Die Frau, die als Malena Donoso identifiziert
wurde, hatte sich nicht gewehrt; vermutlich hatte sie keine Zeit mehr dazu, da
der erste und einzige Schlag kalt und treffsicher ausgeführt worden war.
-
„Es fehlt das Geld, das sie möglicherweise in den
Brieftaschen hatten, genau wie Uhren und Schmuck, aber sonst nichts. Die
Ausweise wurden bei den Leichen im Pool gefunden“, sagte meine Chefin,
Kommissarin Marina Tabares. Da sie mich nicht hatte lokalisieren können, war
sie angesichts der besonderen, ungewöhnlichen Umstände des Falls auf einer
Insel wie Teneriffa, die zu Recht einen guten Ruf als ruhiger, sicherer und
perfekter Urlaubsort hatte – und hat –, in den Süden der Insel gereist.
-
„Kennst du John Becker?“, fragte ein anderer Kollege
der Polizei des Südens, der uns ebenfalls ins Leichenschauhaus begleitet hatte.
-
„Den englischen Unternehmer? Ja, ich kenne ihn vom
Hörensagen und weiß nur, dass er viele Firmen auf der Insel und in London hat, genau
wie eine sehr junge Frau, die in der Regenbogenpresse gut aussieht“, sagte ich,
ohne ihn anzuschauen, und konzentrierte mich auf Donosos lebloses Gesicht, mit meinen
Hände in den Taschen meiner Jeans.
-
„Also seine tote Begleiterin ist nicht seine Frau,
auch wenn sie ganz offensichtlich noch toller aussah als seine Angetraute. Was
für ein Paar Melonen!“, warf der Kollege ein, der ebenfalls seinen Blick nicht
von der Toten nahm. „Sie war Brasilianerin“, meinte er weiter. „Malena Donoso, ein
schöner Name, was?“, sagte er wie zu sich selbst. „Wie es scheint, hat sie bei
ihm gelebt, wenn Becker auf Teneriffa war. Das besagen zumindest die Gerüchte,
die im Hotel Jardín Tropical kursieren. Dort haben sie eine Suite bewohnt, die Becker
dauerhaft auf seinen Namen gemietet hat. Seine offizielle Frau verbrachte ihr
Leben lieber in London.“
-
„Es gibt also eine Witwe“, sagte ich, ohne auf
seine unangemessene Anspielung auf das attraktive Aussehen des Opfers
einzugehen, und dachte laut, während ich meine Arme vor der Brust verschränkte.
Ich fühlte mich bei dem Gespräch vor den zwei Leichen unwohl.
-
„Genau“, bestätigte der Polizist. „Viel mehr haben wir
nicht herausfinden können. Man hat uns mitgeteilt, dass Sie von der Dienststelle
Santa Cruz den Fall übernehmen werden.“
-
„Ist dieser Becker so wichtig?“, fragte Marina
Tabares und drehte mir ihre perfekten langen Haare zu, die grau, fast weiß
waren und ihr bis auf die Schulter reichten.
-
„In London mehr als hier, glaube ich. Nick, der
Mann meiner Schwester Clara, kennt ihn. Er hat mir einmal von seinen sehr
diversen Interessen in England erzählt: eine Immobilienfirma, Geschäfte in der City
und im Canary Wharf und verschiedene touristische Einrichtungen, soweit ich
mich erinnern kann“, meinte ich abschließend und verlagerte mein Gewicht auf
das andere Bein, ohne meinen Blick von Malenas Gesicht lösen zu können.
-
„Wer sagst du, ist dieser Nick?“, fragte Marina mit
verlorenem Blick. Sie schien ganz in Gedanken vertieft.
-
„Mein Schwager, Nick Patten. Der Mann meiner Schwester Clara,
die in London lebt.“
-
„Ah, okay“, erwiderte sie nachdenklich, nahm beide
Hände hinter dem Rücken und schaute mich an. „Jetzt hast du mir noch einen
Grund mehr gegeben, um dir den Fall zu übertragen. Er ist wie für dich gemacht.
Eine Brasilianerin, genau wie deine Familie, und ein Engländer, den dein Schwager
zufällig kennt. Tut mir leid, das ist dein Fall.“ Sie streckte beide Handflächen
nach oben, so als wolle sie sich entschuldigen.
-
„Aber, Chefin, wir haben am Präsidentensitz jede
Menge zu tun und ...“ Sie unterbrach mich und bat mich mit erhobenem
Zeigefinger, still zu sein.
-
„Ich weiß, ich weiß. Ich spreche mit Adán.“ Meine
Chefin hatte sich mit den Jahren mit dem Präsidenten angefreundet, sodass wir
ihn untereinander duzten.
-
„Chefin, können Sie den Fall nicht bitte jemand
anderem geben? Er kommt mir ungelegen … Ich muss bestimmt reisen, und ehrlich
gesagt …“
-
„Tut mir leid, María, du wirst den Fall übernehmen,
ob es dir passt oder nicht.“ Sie schaute mich übellaunig und mit aller
Autorität an. „Jetzt konzentriere dein Köpfchen mal auf die Toten. Ich habe
sonst niemanden, der Englisch und Portugiesisch spricht und deine Beziehungen
und Erfahrung hat.“
Ich beschloss, es zu riskieren und noch etwas mehr nachzuhaken.
-
„Es gibt im Kommissariat doch sicher noch mehr
Leute, die Lust auf einen solchen Fall haben.“
-
„Du bist meine beste Ermittlerin, das weißt du ganz
genau. Ende der Diskussion.“
Ich versuchte, an nichts zu denken und für einen Moment zu vergessen,
wie sehr ich schon wieder jonglieren müsste, um einmal mehr meinen
Terminkalender und mein Leben mit Pedro mit einem solchen Fall vereinbaren zu
können. Ich führte seit zwei Jahren eine blendende Beziehung mit Pedro Pataki, den
ich in São Paulo kennengelernt hatte. Ich war mir zwar immer noch nicht sicher,
ob ich endgültig zu ihm ziehen sollte oder nicht, ob ich heiraten sollte oder
nicht, und hatte viel Lust, mit ihm zusammen zu sein. Da ich es in Liebesdingen
unversehrt ins Erwachsenenleben geschafft und meine erste, unglückliche Ehe und
die traurige Scheidung ohne allzu großen Schaden überstanden hatte, wollte ich
nicht, dass diesmal etwas schiefging. Als ich Pedro in São Paulo kennenlernte,
schien er mich perfekt zu ergänzen. Er war all das, was ich gerne wäre und
nicht war. Pedro war vor allem ein Mann! Nicht dass ich etwas gegen
Homosexuelle hätte, aber ich bin nicht nur Feministin, sondern auch heterosexuell,
und Pedro war es zum Glück auch. Er war ein guter Mensch, sehr attraktiv,
fantasievoll, einfallsreich, extrovertiert, aufgeschlossen, sensibel, erlesen, ein
Familienmensch, analytisch, impulsiv, ein Workaholic, leidenschaftlich und mit
einer unerschöpflichen, unglaublichen Kreativität, die es ihm ermöglichte, sein
Werk in der halben Welt kreieren, auszustellen und zu verkaufen. Er sagte, ich
sei sein perfekter Gegenpart, da ich Frau, schön, intelligent, gebildet,
scharfsinnig und visionär in der Hinsicht war, dass ich Dinge kommen sah; hartnäckig
und beharrlich, revolutionär, also manchmal eine Art Jeanne d’Arc. Ganz
offensichtlich war er verliebt, denn ich fand mich har nicht so toll. Meine
Chefin würde mich statt beharrlich eher als dickköpfig bezeichnen, um nur auf
einen Aspekt einzugehen. Aber so war nun mal die Liebe, nämlich blind.
Tatsächlich waren wir sehr glücklich zusammen, auch wenn ich mein
Singleapartment behalten hatte, und er sein Haus in La Laguna und wir noch
immer nicht ganz entschieden hatten zusammenzuziehen. Marina Tabares riss mich
aus meinen Gedanken.
-
„Sobald dieses schreckliche Verbrechen rauskommt,
ist hier der Teufel los. Für den Tourismus kann es eine reine Katastrophe sein“,
sagte sie und pendelte mit dem Kopf leicht hin und her, während sie sich wie
abgelenkt umschaute, als würde sie an etwas anderes denken.
-
„Sie haben sicher recht, Chefin, aber wir müssen
mit dem Verbrechen umgehen wie an jedem anderen Ort, nicht wie an einem
Urlaubsort. Zum Glück haben wir es nicht mit einem terroristischen Attentat zu
tun, denn solche fanatischen Gewalttaten würden tatsächlich Alarm schlagen.“ Sie
schaute mich reserviert und übellaunig an.
Wir wussten beide, dass dieses Verbrechen vor allem in der britischen
Gemeinschaft für Bestürzung sorgen würde, auch wenn es kein Terrorakt war.
Teneriffa war – metaphorisch gesprochen – Londons Strand. Wenn die
Engländer nach der warmen Sonne auf ihrem Körper gierten, hatten sie es
einfach, denn jede Woche verbanden Hunderte Flüge die Insel mit England und
bescherten Millionen Briten einen Traumurlaub. Das Sonnenlicht, der Glanz, der
Salzduft des Meers und die reine, stärkende Luft erwarteten sie nur vier
Flugstunden entfernt an einem sicheren Ort, der neben Afrika lag, aber
europäisch war und neben einer westlichen Kultur und westlichen Gewohnheiten
das beste Klima der Welt zu bieten hatte. In dieser Hinsicht konnten weder
London noch eine andere britische Stadt mit ihrem während eines Großteils des
Jahres düsteren, lästigen Klima mithalten. Teneriffa galt auch als ruhige Insel
mit einer niedrigen Kriminalitätsrate, was sich im Laufe der Jahre des
touristischen Fortschritts unweigerlich in den tatsächlichen Statistiken
niedergeschlagen hatte, die der Urlaubsinsel in Südeuropa jahrzehntelang einen
soliden und in Sachen Sicherheit hervorragenden Ruf beschert hatten. Deshalb
würde dieses Verbrechen die Öffentlichkeit erschüttern und schocken und
niemanden gleichgültig lassen.
Marina und ich betrachteten noch eine Weile die kalten Körper im
erbarmungslosen Licht und in der kalten Atmosphäre der Leichenhalle. Ich
schaute mir die beide Leichen an. Sein Körper war grauweiß bis bläulich; mit
einem emporragenden, kaum verhohlenen Bauch; mit grauem, schütterem und frisch
geschnittenem Haar und einem Ein- oder Zweitagebart. Ihr Körper war perfekt,
dunkel bläulich-grün; mit schwarzem, gewelltem Haar. Sie sah selbst tot noch
gut aus, trotz der Spuren, die die Obduktion hinterlassen. Ich hatte Mitleid
mit ihr, viel mehr als mit ihm. Allerdings wusste ich nicht, warum. Vielleicht,
weil sie noch so jung gewesen war, wenngleich ein 55-jähriger Mann auch noch
recht jung zum Sterben war, und erst recht auf diese Art und Weise. Oder war es
vielleicht, weil sie eine Frau war?
-
„Ich würde mir gerne zuerst den Tatort anschauen
und dann die Habseligkeiten von Becker und Donoso überprüfen, um etwas mehr
über sie zu erfahren“, seufzte ich laut dem Kollegen vom Südkommissariat zu und
schaute zu Marina. „Ich brauche Untersuchungsberichte vom Tatort und von der
Leichenschau.“
-
„Selbstverständlich, ich rufe unverzüglich den
zuständigen Richter an, damit er alle nötigen Genehmigungen erteilt. Lasst uns
jetzt aber gehen“, meinte Marina, der das Leichenschauhaus ebenso wenig gefiel wie
mir.
-
„Wann ist der endgültige Obduktionsbericht fertig?“
-
„Morgen. Die Frau des Toten kommt von London
geflogen und wird gleich nach ihrer Landung herkommen, um die Leiche offiziell
zu identifizieren. Die Familie der Frau haben wir noch nicht ausfindig machen
können“, sagte der Kollege.
-
„Wie hieß sie?“
-
„Wer?“
-
„Sie.“
-
„Habe ich dir doch schon gesagt. Malena Donoso, 25 Jahre.“
-
„Nein, Beckers Frau.“ Wir schienen aneinander
vorbei zu reden.
-
„Alicia Scott Becker. Engländerin wie Becker, 44 Jahre.
Sie hat ihren Mädchennamen behalten. Was sollen wir tun? Auf sie warten?“
-
„Alicia Scott“, sagte ich geistesabwesend und
versuchte sie mir vorzustellen und mich besser an ihr Gesicht zu erinnern, das
unzählige Male in der Regenbogenpresse veröffentlicht worden war. „Nein, ist
ein sehr angespannter Moment, ich unterhalte mich lieber mit ihr im Hotel“,
sagte ich. „Wenn es Ihnen recht ist, Frau Kommissarin.“
-
„Du entscheidest, María. Ich muss zurück nach Santa
Cruz. Du weißt ja, was wir da für ein Durcheinander haben. Bleib du hier und
übernimm die Leitung der Ermittlungen. Ruf Pérez Fuentes an, er soll sofort mit
in den Fall einsteigen.“
Die Kommissarin
verabschiedete sich mit einer ihrer eleganten, resoluten Gesten. Mit ihrem
dunkelblauen, kurzärmeligen Kostüm und einem passenden Gürtel und mit ihrem
eleganten High Heels stieg sie in den Wagen, der sie wieder zurück nach Santa
Cruz und in ihr Büro bringen würde, während ich im Süden blieb. Ich stand vor
der Leichenhalle in der unbarmherzigen Mittagssonne der Insel und hatte das
Gefühl, am falschen Ort zu sein. Erst dann wurde mir erstmals bewusst, wie ich
aussah. Da Feiertag war, trug ich eine einfache schwarze, enge Jeans mit einem
schwarzen, mit Silbernieten übersäten Ledergürtel, ein weißes T-Shirt und
bequeme schwarze Sandalen mit Absatz und breiten Riemen, die mir fast bis an
die Knöchel reichten. Meine Handtasche war noch die von der Nacht zuvor, eine
schwarze, große Lacktasche, die Zentner zu wiegen schien. Ich wirkte zu leger
für eine Polizistin in einem doppelten Mordfall, würde aber nicht nach Santa
Cruz zurückfahren, nur um mich umzuziehen. Also zuckte ich mit den Schultern
und zog los. Ich fuhr mit dem Auto, das ich vor dem Kommissariat Adeje geparkt
hatte, zum Hotel Jardín Tropical. Da sein Besitzer, Jesús de Polanco, mit Adán
Martín befreundet war, war ich dort schon mehrmals im Sommer gewesen und kannte
die PR-Chefin, die mir ihre Unterstützung anbot, als sie erfuhr, dass ich für
den Fall zuständig war. Covadonga, so ihr Name, war die Tochter asturischer
Emigranten in Holland, wo sie aufgewachsen war. Dank ihrer Erziehung beherrschte
sie sieben Sprachen. Nach der üblichen herzlichen Begrüßung wechselte ich
sofort das Thema und kam auf den Punkt.
-
„Covadonga, ich möchte erst einmal den Tatort
sehen.“
-
„Klar, ich begleite dich. Der Bereich ist wieder
für die Öffentlichkeit zugänglich“, meinte sie, während sie von der Hotellobby
auf den zum Meer hin liegenden Poolbereich ging. „Komm mit. Wir haben versucht,
dass so wenige Gäste wie möglich davon erfahren. Stell dir nur vor, wie
schrecklich ein Mord im Hotel für uns sein kann. Bisher ist es uns gelungen.
Zum Glück stellen die Briten nicht den größten Anteil unserer Gäste, sondern
die Deutschen. Trotzdem wäre die Bestürzung groß und, wer weiß, vielleicht
würden irgendwelche Medien ein übermäßiges Interesse zeigen, so
sensationslustig, wie die englischen Boulevardzeitungen nun mal sind. Eine gute
Werbung ist es ehrlich gesagt nicht, aber so etwas kann natürlich jedem und
überall passieren, und das wissen die Leute. Nach dem World Trade Center kann
einem an den ungewöhnlichsten Orten einfach alles passieren.“
-
„Was haben die Leute gesagt, als der Pool
geschlossen war?“, fragte ich, während wir in Richtung Beachclub liefen.
-
„Nicht viel. Wir haben die Sache verharmlost und
gesagt, es sei gestohlen worden und die Polizei nähme Fingerabdrücke. Die
Leichen wurden ganz früh gefunden, und der für den Fall zuständige Richter gab sie
zum Glück schon um halb neun morgens frei. Um die Zeit war noch kein Tourist
ins Las Rocas runtergekommen. Von der Promenade aus konnte man zwar die gelben
Absperrbänder sehen, aber John Becker und seine Señora waren nicht mehr da.“
-
„Ihr habt sie mit ‚Señora‘ angeredet?“, fragte ich wirklich
neugierig.
-
„Becker wollte das so, aber wir wussten, dass sie
nicht seine Frau war. Früher kam er mit seiner echten Frau. Seine Ehefrau hat
uns übrigens angerufen, um ein Zimmer zu buchen, da sie solange hierbleiben
will, bis sie ihren Mann mit nach London nehmen kann. Sie kommt heute Abend
an.“
-
„Ich weiß. Auch ich brauche für mindestens einen
Tag ein Zimmer als Einsatzort und für Befragungen. Das erledige ich lieber in einem
diskreten Zimmer statt in einem öffentlichen Raum. Vielleicht übernachte ich
heute auch hier“, meinte, während ich darüber nachdachte, dass die Tatsache,
dass Malena nicht seine Frau war,
nicht bedeutete, sie wäre keine ‚Señora‘.“
-
„Klar, das Hotel steht dir zur Verfügung“,
antwortete Covadonga zuvorkommend.
-
„Und noch was. Ich brauche eine Liste mit allen
Gästen, die gestern im Hotel übernachtet haben.“
Covadonga rief irgendjemanden an und forderte ihn auf, die Gästeliste
auszudrucken. Ich nahm mein Handy und rief Nicolás Pérez Fuentes, meinen alten
Kollegen bei der Polizei, an und bat ihn, so schnell wie möglich in den Fall einzusteigen.
Währenddessen liefen wir an den Pools des Hotels vorbei, wo die Touristen einen
strahlenden Sonnentag und sommerliche Temperaturen genossen, obwohl es Anfang
November war. Das funkelnde Poolwasser, in dem einige planschende Kinder Wellen
warfen, strahlte hell und blendete mich. Dann traten wir in eine kleine Unterführung
mit Terrakottaboden, die unter den Hotelterrassen verlief und deren Schatten
und Frische ein wahrer Segen waren, und gelangten an die öffentliche Promenade.
-
„Las Rocas unterliegt einer öffentlichen Konzession“,
erklärte mir Covadonga. „Es befindet sich auf dem Grund und Boden der
Generaldirektion Küste. Deshalb müssen wir vom Hotel aus raus auf die Promenade
und von da aus in unseren Beachclub. Außerdem können wir ihn nicht für die
Öffentlichkeit schließen, aber wer ihn besuchen will, muss natürlich für den Service
zahlen, der sehr teuer ist. Deshalb ziehen die meisten einfach weiter, und es
kommen vor allem die Gäste aus dem Hotel und einige andere Touristen her, die
bereit sind, unsere Preise zahlen. Überfüllt ist er aber nie.“
-
„Welche Öffnungszeiten hat er?“, fragte ich, als
ich die kleine schlichte Holztür sah, durch die wir eintraten, um anschließend
über eine Treppe zum kleinen schwarzen Felsvorsprung hinabgingen, auf dem sich
der Pool des Beachclubs befand.
-
„Wir bedienen von neun Uhr morgens bis elf Uhr abends
bedienen wir. Da hinten befinden sich eine Bar und ein Restaurant“, entgegnete
sie und zeigte auf eine Ecke mit Holzparkett über dem Meer. Ich kannte sie ich
bereits von einem Mittagessen mit Polanco und Martín im August.
-
„Und was ist nach dreiundzwanzig Uhr?“
-
„Der Pool und die Bar hinten sind bis neunzehn Uhr
abends geöffnet, und das Restaurant bis dreiundzwanzig Uhr. Dann wird die
Anlage geschlossen, aber du hast ja selbst gesehen, dass hier nur eine dünne Holztür
ist, die nicht sicher ist. Deshalb haben wir sie auch schon oft morgens offen
vorgefunden. Wie gesagt, es ist ein öffentliches Gelände. Also sorgen wir für
eine gewisse nächtliche Überwachung mit einer Kamera für das Restaurant, wo
sich die Wertsachen befinden. Der Wachmann des Hotels dreht nachts seine
Runden.“
-
„Eine Kamera?“, fragte ich, während ich mich
umdrehte und sie mit einem Blick nach oben suchte.
-
„Ja, aber nur eine, und sie ist nach links
gerichtet.“ Ich blickte in die Richtung, in die Covadonga zeigte, und sah einen
verglasten Raum voll mit Tischen. „Wir haben uns das Video bereits angeschaut,
und ein Kollege von dir aus Adeje hat es mitgenommen, aber es war nichts zu
sehen.“
-
„Habt ihr es euch angesehen, bevor die Polizei kam?“
-
„Nein, erst im Beisein deines Kollegen.“
-
„Und mein Kollege ließ euch dabei sein?“, fragte
ich und dachte daran, dass, soviel ich wusste, auch noch keine richterliche
Anordnung vorlag.
-
„Ja, der Sicherheitschef des Hotels und ich waren
dabei. Warum?“
-
„Ach nichts“, meinte ich und dachte, dass sie so
nicht hätten verfahren dürfen und dass so manch einer einen unverbesserlichen
Mangel an Professionalität zeigte.
-
„Tut mir leid.“
-
„Ist ja nicht deine Schuld“, sagte ich und befand
mich bereits im Bereich der Liegestühle und balinesischen Betten am tiefblauen
Meer, das sich an diesem Morgen nur leicht an den schwarzen Vulkanfelsen brach.
Es war ein
absoluter Traumtag, und das Meer lag fast wie ein Spiegel da. In der Ferne war
die erhabene Silhouette der Insel Gomera zu erkennen. Den Ozean durchkreuzten
einige Katamarane in Richtung der Wal- und Delfin-Sichtungsstellen und kleine
Freizeitboote mit fröhlichen, sorglosen Passagieren. Es roch nach Meersalz und
Kokosnuss-Selbstbräuner, und es lagen noch andere leckere Meeresdüfte in der
Luft. Es waren magische Gerüche, die mich schon von klein auf begeisterten und Erinnerungen
an den Sommer heraufbeschworen. Von dem Mord war nichts mehr zu sehen. Die
Touristen badeten ruhig, wo nur wenige Stunden zuvor alles voll mit Blut
gewesen war. Angesichts des heiteren Spiels der Kinder im Wasser und der leuchtende
Sonne schien ein Tatort hier unvorstellbar. Mich ärgert der Gedanke, dass sich der
Richter näher mit der Ermittlung hätte befassen und den Tatort noch etwas
länger unversehrt hätte lassen müssen, doch jetzt war nichts mehr zu machen.
Ich befragte den Poolpfleger, der die Leichen gefunden hatte. Der Anblick ließ
ihn noch immer schaudern. Er war groß und korpulent, und seine Haut war von der
täglichen Sonne bei seiner Arbeit stark gebräunt. Seine tadellos weiße Uniform
bestand aus einem kurzärmligen T-Shirt und einer Bermudahose. An den Füßen trug
er ebenfalls weiße Sneakers und Socken in der gleichen Farbe. Sein Gesicht zeigte
eine gewisse Beklemmung und Nervosität. Seine Stirn war gerunzelt, und sein
Blick offenbarte tiefes Unbehagen. Er saß an einem kleinen Tisch im Schatten.
Ich setzte mich gegenüber und hatte zwei grundlegende Fragen, die ganz oben auf
meiner Liste standen. Die erste war ebenso offensichtlich wie dringend, um mir
eine Vorstellung zu machen.
-
„Was ist passiert?“
-
„Ich traf wie immer morgens um halb sieben ein. Die
Sonne war noch nicht aufgegangen, und der Himmel war in der Phase des
Morgengrauens, in der sich das Schwarz in Hellgrau verwandelt. Ich ging rein
und leise die Stufen runter. Wie jeden Tag stellte ich als erst Wasseranschluss
an. Der Pool enthält Salzwasser und wird täglich gefüllt und geleert. Ich
schaute nicht rein, weil ich ihn am Vorabend gründlich gereinigt hatte. Als ich
auf das hineinströmende Wasser sah, spiegelte es sich rosafarben an den
glänzenden, weißen Poolwänden. Dann bemerkte ich die beiden Körper. Damit hätte
ich nie gerechnet. Zunächst verstand ich gar nichts, aber dann wusste ich, dass
sie tot waren.“
-
„Woher wussten Sie das?“
-
„Keine Ahnung. Ich wusste es einfach, als sich sie
reglos auf dem Bauch liegen sah.“
-
„Was haben Sie getan?“, war meine zweite Frage.
-
„Ich war geschockt. Ich rief die Rezeption an und
sprach mit unserem Sicherheitschef. Während er sich auf dem Weg hierher machte,
stellte ich den Motor der Wasserzufuhr ab.“
-
„Was noch?“
-
„Als er sah, was los war, rief er schnell den
Hoteldirektor, die Polizei und den Notruf 112 an. So lautet das Protokoll, das
für sämtliche Vorfälle gilt, wissen Sie?“ Er sprach mit dem breiten kanarischen
Akzent aus dem Süden der Insel, und es fiel mir schwer, ihn zu verstehen.
-
„War sonst noch jemand in diesem Bereich, als sie
eintrafen?“
-
„Niemand, Frau Polizistin. Normalerweise schaffe
ich es alleine, den Pools zu füllen“, sagte er ein wenig ruhiger.
-
„Gibt es keine weiteren Mitarbeiter? Andere
Poolpfleger oder Gärtner?“ Ich hielt inne, da ich die Fachbegriffe für diese
Arbeitsplätze nicht kannte. „Ist hier um diese Zeit sonst kein Personal?“
-
„Nein, Frau Polizistin. Als ich merkte, dass vor
mir zwei Leichen lagen, schaute ich in alle Richtungen, das kann Ihnen
versichern. Ich ... Ich zitterte vor Angst und war sehr wachsam. Wenn jemand da
gewesen wäre, hätte ich ihn gesehen. Es hätte sich schon jemand zwischen den
Steinmauern verstecken können, aber ...“ Er machte eine Pause und suchte nach
den richtigen Worten. „Ich glaube, da war niemand.“
-
„Na gut.“ Der aufdringliche Lärm eines
Presslufthammers auf einer nahe gelegenen Baustelle schlug mir auf die Laune. „Sie
müssen aufs Kommissariat kommen, um eine offizielle Aussage zu unterschreiben.
Notieren Sie mir Ihre Daten.“ Ich gab ihm ein kleines Notizbuch, das ich immer
bei mir trage, und einen Kugelschreiber, den der Mann ungeschickt benutzte und
mir dann zurückgab. „Sie können vorerst gehen.“
Ich wandte mich
wieder an Covadonga, an die ich viele Bitten hatten.
-
„Covadonga, ich brauche so schnell wie möglich die
Liste mit den Hotelgästen, einschließlich der Personalausweise oder
Passnummern. Sobald mein Kollege kommt, müssen wir sie befragen. Es tut mir
leid, wenn das Umstände bereitet. Die Gäste sind nicht unbedingt die
Hauptverdächtigen, aber sie können zu schnell verschwinden, und deshalb möchte
ich mit ihnen anfangen. Ich möchte mich auch mit dem Sicherheitschef
unterhalten. Und die Liste aller Mitarbeiter, die gestern Nacht Dienst hatten.“
-
„In Ordnung. Heute Morgen sind etwa 15 Gäste zum
Flughafen gefahren. Wir hatten einen ungewöhnlich frühen Check-out, schon um
sechs Uhr morgens. Den Sicherheitschef hole ich jetzt gleich. Ich brauche ein
paar Minuten“, sagte sie und wollte sich umdrehen, um zu gehen.
-
„Warte“, hielt ich sie zurück. „Ich brauche auch
eine Liste der 15 Passagiere mit allen Daten, die du hast: Adressen,
Passnummern, ihre Fluggesellschaft; was du finden kannst. Wir können niemanden
ausschließen. Wenn du einverstanden bist, führen wir einen Teil der Befragungen
in dem Zimmer durch, um das ich vorhin gebeten habe. Diskret soll es sein. Ich
werde versuchen, euch möglichst wenig Probleme zu bereiten. Vergiss nicht die
Liste mit dem Hotelpersonal, das gestern Abend Dienst hatte, und allen, die für
gewöhnlich mit dem Paar zu tun hatten. Ich habe sicher etwas vergessen, werde
aber mit weiteren Bitten auf dich zukommen, sobald es nötig ist.“
-
„Darauf kannst du zählen. Wir tun alles
Erdenkliche, um zu helfen.“
-
„Es ist eine Unannehmlichkeit für das Hotel. Wie
gesagt, wir müssen alle Mitarbeiter, dich eingeschlossen, befragen.“
-
„Mich?“
-
„Das ist so üblich. Wir müssen uns ein Bild von der
Lage machen. Ich rechne bald mit Verstärkung.“
-
„Sind wir vom Hotel besonders verdächtig?“
-
„Nein, natürlich nicht, aber irgendwo müssen wir ja
anfangen. Wir befassen uns auch mit den Anwohnern des Hotels, Geschäften,
Häusern. Bei einer Ermittlung ist es außerdem üblich, immer wieder auf die
persönlichen Beziehungen der Mordopfer, ihr Arbeitsumfeld, einfach alles
einzugehen.“
-
„Gut.“
Ich ging wieder
zurück an den Pools vorbei, wo die Touristen weiter glücklich die strahlende
Sonne genossen, ohne von unseren Problemen zu wissen. Covadonga gab mir ein
Zimmer mit Meerblick und begleitete mich dorthin. Es lag in der vierten Etage,
war groß, mit einem vom Schlafzimmer abgetrennten Wohnzimmer, eingerichtet mit
zwei großen Dreisitzer-Sofas und in einer Ecke mit einem Esstisch mit vier
Stühlen. Alles war hell, in Weiß und Beige gehalten, und minimalistisch
eingerichtet. Es würde seinen Zweck erfüllen.
Ich bat darum,
zunächst einmal mit Beckers Witwe zu sprechen, und verlangte, dass niemand, aus
welchem Grund auch immer, das Zimmer der Opfer betreten sollte, solange ich es
nicht erlaubte. Ich vermutete, dass, sobald die Nachricht vom Mord an John
Becker umging, schnell Gerüchte und Spekulationen aufkommen und auf der Insel
verbreitet werden würden. Doch bis jetzt kannte außer dem Mörder und uns
niemand die Einzelheiten der Geschehnisse. Ich würde versuchen, den Ruf des
Hotels zu wahren und den Tourismus vor Auswirkungen den Geschehnissen zu
schützen. Am wichtigsten war zwar, den oder die Täter ausfindig zu machen, aber
es war auch wichtig, dem Image der Insel nicht zu schaden. Daher würde ich im
Rahmen meiner Möglichkeiten versuchen, beide Absichten miteinander zu verbinden.
Teneriffa war kein Ort, an dem man es üblicherweise mit Mord tun hatte, und
schon gar nicht mit einem so sensationsträchtigen Mordfall wie diesem.
Eigentlich war es nicht mein Problem, und wenn der Tourismus den Bach
runterging, wäre es nicht die Schuld der Polizei, doch in den fast drei Jahren,
die ich für Martíns Regierung tätig war, hatte ich gelernt, die Realität genau wie
er durch eine Art Prisma aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Deshalb
verstand ich, dass, wenn es in meiner Macht lag, ich mich nicht einfach nur auf
meine Position als Inspektorin der Nationalpolizei beschränken durfte, sondern
etwas mehr tun musste. Ich blieb allein im Zimmer und wartete auf Frau Becker.
Es war schon komisch, auf diese wunderschöne, eindrucksvolle Landschaft zu
blicken und die Küste mit der leuchtenden Insel Gomera im Hintergrund zu
bewundern, die von den Schatten der Wolken und der blendenden Sonne umrahmt
war, und mich gleichzeitig mit ebenso bedauerlichen wie sinnlosen gewaltsamen
Todesfällen zu befassen. So dachte ich, als mein Mobiltelefon klingelte:
-
„Ja?“
-
„María, ich bin’s, Covadonga. Man hat uns gerade
bestätigt, dass Frau Becker gleich landet. Ein Wagen des Hotels holt sie ab.“
-
„Das ging aber schnell!“, meinte ich und dachte,
wie merkwürdig leicht es ihr gefallen war, so überstürzt einen Flug zu organisieren.
-
„Sie muss sich ziemlich beeilt haben“, überlegte Covadonga.
„Schließlich kommt sie in ihrem Privatflugzeug. Sie weiß, dass du sie erwartest.
Sie hat Zimmer 430, ganz in der Nähe von deinem. Ich gebe dir Bescheid, sobald
sie im Hotel eintrifft.“
-
„In Ordnung, danke.“
Eineinhalb Stunden später stand ich Alicia Scott gegenüber. Sie war
mittelgroß, schlank und hatte langes, blondes Haar, das ihr bis auf die
Schultern reichte. Sie lehnte an der Glastür ihres Zimmers zum Balkon, mit dem
Meer im Hintergrund. Dort stand sie mit einer Zigarette in der Hand, elegant,
und schaute mit traurigem, verlorenem Blick zum Horizont des Meeres. Sie trug
ein elegantes, gerade geschnittenes und schlichtes Kleid in einem dunklen Blau
und edle High Heels mit zehn Zentimeter Absatz in einem ähnlichen Blauton. Sie
trug weder Schmuck noch Make-up. Das geräumige Zimmer sah genau wie das aus,
das man mir gegeben hatte. Sie drehte sich nur langsam um, also sie uns kommen
hörte. Nach einer kurzen höflichen Vorstellung auf Englisch ließ uns Covadonga allein.
-
„Möchten Sie eine Tasse Tee, Inspektorin Anchieta?“,
fragte mich Alicia Scott Becker, während wir uns jeweils in einen bequemen
Sessel vor dem lichtdurchfluteten Fenster setzten und sie sich eine Zigarette
anzündete.
-
„Nein, danke“, antwortete ich und versuchte, mich
schnell an den Sprachwechsel zu gewöhnen. „Ich möchte Ihnen mein Beileid
aussprechen. Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss Ihnen einige Fragen
stellen.“ Ihr Augen zeigten eine kaum wahrnehmbare Geste der Dankbarkeit.
-
„Rauchen Sie?“, fragte sie und hielt mir ihr
silbernes Zigarettenetui hin.
-
„Nein, danke.“
-
„Klar, deswegen sind wir ja hier“. Ihr Englisch offenbarte
einen feinen Londoner Akzent, der klar und leicht zu verstehen war.
-
„Sagen Sie, Mrs Becker …“
-
„Bitte nennen Sie mich Alicia.“ Ihr Profil ähnelte
dem einer griechischen Statue und war perfekt. Das Tageslicht färbte sich golden
an und wurde intensiver, und aus der Ferne waren Kinder zu hören, die sich im
Hotelpool vergnügten.
-
„Sagen Sie, Alicia, wo waren Sie, als es geschah?“,
fragte ich sie so vorsichtig, wie es mir möglich war, und suchte in meinen
englischen Wortschatz vergeblich nach dem Wort für ‚Vorfall‘. Ich kenne es gar nicht,
dachte ich.
-
„Ich weiß noch nicht einmal, wann er gestorben
ist.“ Sie sah mit großen blauen Augen zu mir auf und blickte mir tief in die
Augen. „Man hat mir nur gesagt, dass es gestern Nacht geschah, vermutlich am
frühen Morgen.“ Am Ende des Satzes senkte sie wieder den Blick, betrachtete die
Zigarette in ihrer Hand und nahm einen schnellen, nervösen Zug.
-
„Die genaue Uhrzeit wissen wir nicht, aber meine
Kollegen meinen, dass es gestern Nacht nach dreiundzwanzig Uhr geschah. Wir
warten noch auf die endgültige Obduktion.“
-
„In diesem Fall war ich zu Hause, in London, und habe
geschlafen. Ich habe das Licht um halb elf ausgemacht, nachdem ich eine Weile
gelesen hatte. Wir richten uns nach den Schulzeiten meiner Tochter und stehen
früh auf: Um sechs Uhr sind wir auf den Beinen.“
-
„Wer hat sie benachrichtigt?“
-
„Der Hoteldirektor.“
-
„Um wie viel Uhr?“
-
„Es muss gegen zehn Uhr morgens gewesen sein.“.
-
„Sie haben sehr schnell herkommen können. Es ist
gerade mal neunzehn Uhr, und sie sind schon in Teneriffa.“
-
„Zufälligerweise wollte ich nach Paris fliegen. Das
Flugzeug war bereit, und ich auch. Wir mussten nur den Flug ändern.“
-
„Darf ich Sie fragen, weshalb sie in Paris
wollten?“
-
„Es wurde eine Oper aufgeführt, die mich sehr
interessiert, „Tristan und Isolde“ in einer neuen Version. Aber was spielt das
jetzt für eine Rolle?“ Sie schaute mich verblüfft an, während ich mir im Geiste
die Information notierte, um sie später zu überprüfen.
-
„Haben Sie mit Ihrem Mann gesprochen? Ich meine,
wann haben Sie zuletzt miteinander gesprochen?“, hakte ich näher nach.
-
„Gestern Abend, wie immer. Er hat mich jeden Tag zwischen
19 und 20 Uhr angerufen, um nach der Kleinen zu fragen und über alles auf dem
Laufenden zu bleiben. Das war gestern genauso.“
-
„Worüber haben Sie genau gesprochen?“ Ich mochte
ihren Akzent, dachte ich, während sie wieder ihre großen Augen öffnete.
-
„Über das Gleiche wie immer. Er erzählte mir, dass es
hier sonnig sei, dass er eine Versammlung in der Sache mit dem Hafen gehabt
hatte und dass …“
-
„Entschuldigen Sie“, unterbrach ich sie. „Eine Versammlung
in der Sache mit dem Hafen? Was meinen Sie?“
-
„Eines der Geschäfte meines Mannes waren die
Handels- und Sporthäfen. Also unter anderem, denn er hatte auch noch andere
Geschäfte. Derzeit war er allerdings mit Projekten rund um Handels- und
Sporthäfen in der halben Welt beschäftigt.“
-
„Welche anderen Geschäfte?“, fragte ich
nachdenklich.
-
„Hostels“, sagte sie und fügte angesichts meines
fragenden Blicks erklärend hinzu: „Ja, diese früher etwas schäbigen Unterkünfte
für mittellose Studenten sind jetzt fast schon Boutique-Hotels, auch wenn sie
immer noch aus Mehrbettzimmern bestehen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein
paar Beispiele zeigen. Das waren die jüngsten Geschäftsbereiche, mit denen er sich
beschäftigt hat.“
-
„Nein, entschuldigen Sie, dass ich von der ‚Unterhaltung‘
abgekommen bin.“ Als ich das Wort aussprach, war mir bewusst, dass es das
leider nicht war. Es war keine ruhige Unterhaltung zwischen zwei Bekannten.
„Fahren Sie mit der Sache mit dem Hafen fort.“
-
„In Ordnung. Er hatte aber noch andere Geschäfte,
wie Einkaufszentren und Luxushotels. Falls es Sie interessiert …“
-
„Bitte erzählen Sie mir von den Geschäften, die mit
Teneriffa zusammenhängen. Das reicht aus.“
-
„Er war in in letzter Zeit so oft auf der Insel, weil
er sein Vorhaben umzusetzen versuchte, einen neuen Hafen in La Caleta, gleich
nebenan in Adeje, zu errichten. Offenbar war es aber sehr kompliziert.“
-
„Wieso kompliziert?“
-
„Ich weiß nicht genau. Ich weiß nur, dass er mir
sagte, die Häfen seien immer kompliziert, und zwar überall. Ehrlich gesagt habe
ich mich aber nicht mehr genau mit seinen Geschäften hier befasst. Ich weiß,
dass er immer Versammlungen mit dem Bürgermeister von Adeje und mit anderen
Gesellschaften abhielt, und mit den Leitern der Häfen oder so, nach dem, was er
mir erzählte. Er beklagte sie, dass sie ihn nicht verstanden. Er wollte ein
neues Hafenkonzept umsetzen.“
-
„Ein neues Konzept? Was soll das heißen?“
-
„Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt habe ich nicht
so genau zugehört. Aber er ist immer interessiert an ... Entschuldigung ...“
Sie schaute mich einen Moment still an und schluckte, bevor sie sich
korrigierte. „Er war immer sehr
interessiert daran, eine hochwertige Architektur für seine Projekte zu erzielen
und geeignete Gegenden zum Bauen zu haben.“
-
„Was meinen Sie mit ‚geeignete Gegenden‘?“
-
„Ich glaube, dass er mit seinen Häfen keine
idyllischen Landschaften zerstören wollte, sondern darauf aus war, sie in die
Umgebung zu integrieren. Er versicherte mir mal etwas, das ich nicht richtig
verstanden habe, denn er sagte, es gäbe hier „viele Magier“. Ich glaube, das ist
ein kanarischer Ausdruck, der bedeutet, dass jemand besonders ungebildet ist.“
Ich musste verstohlen schmunzeln, als ich diese beliebte Wendung hörte. „Dafür
mochte er die Insel Teneriffa, auf der er in den letzten Jahren die Hälfte
seiner Zeit verbracht hat, und ihr Licht und das Meer einfach zu sehr, als dass
es sie auch nur im geringsten beeinträchtigt hätte. Es machte ihn immer sehr
wütend, wenn ein öffentliches oder privates Bauvorhaben unachtsam ausgeführt wurde.“
-
„Eine interessante und seltsame Ansicht für einen
Unternehmer, finden Sie nicht?“
-
„John war nicht der übliche Unternehmer. Er war
ziemlich gebildet und hatte viele intellektuelle Interessen. Er las ständig, liebte
Musik und interessierte sich für zeitgenössische Kunst. Ja, vielleicht machte
ihn das zu einem seltsamen Unternehmer, wie Sie sagen, aber er war überzeugt,
dass man viel Geld machen und gleichzeitig etwas Schönes schaffen konnte, sehen
Sie. Und in der Tat hat er es auch geschafft. Er ist ...“ Sie blickte erneut
auf ihre Hände runter. „Er war ein
sehr reicher Mann.“
-
„Haben Sie ihn manchmal zu diesen Versammlungen
begleitet?“
-
„Wissen Sie, John und ich haben seit einiger Zeit
jeder unser Leben gelebt. Wir waren natürlich noch verheiratet, und ich habe
ihn geliebt, aber in Sachen Sex ... Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber
er brauchte viel mehr als ich und ... Ich wusste, dass er eine Geliebte hatte.
Also bin ich nicht mehr hergekommen. Darüber hinaus haben mich die Geschäfte
nie allzu sehr interessiert, und ich habe schon vor einiger Zeit entschieden,
mich aus diesem Teil seines Leben zurückzuziehen. Ich habe ihm geholfen, wenn
er mich darum bat, aber das war nur hin und wieder der Fall.“
-
„Wie lange ist das her? Ich meine Ihren letzten
Besuch auf der Insel.“
-
„Das letzte Mal, dass wir zusammen auf Teneriffa
waren, war im November letzten Jahres auf der Einweihung des Kongresspalastes.
Magma heißt das Gebäude, glaube ich. Wissen Sie, welches ich meine?“ Sie ließ
die Frage im Raum stehen, bis sie meine bejahende Geste sah. „Ich kam aber
ausschließlich“, fuhr sie langsam und ohne Pause fort, „weil es ein wichtiger Festakt
war und er mich darum gebeten hatte. Eigentlich führte ich damals schon seit
geraumer Zeit mein eigenes Leben. Anlässlich dieses Festakts war ich zum
letzten Mal zusammen mit John auf Teneriffa.“
-
„Erinnern Sie sich an etwas Besonderes bei jenem
Treffen?“
-
„Natürlich an das Gebäude. Herrlich. Und dass das
spanische Königspaar da war. Aber nichts mehr sonst, niente, tut mir leid. Ehrlich gesagt war es ein gesellschaftliches
Ereignis, und sehr protokollarisch. Ich kann mich an kein besonderes Gespräch
erinnern, wohl aber daran, dass John mir hinterher sagte, es gäbe
Schwierigkeiten mit dem Stadtrat oder mit dem Stadtarchitekten und den
Hafentechnikern, oder den Ingenieuren ... Ich erinnere mich nicht mehr so genau.
Sie wollten ihm etwas auferlegen; ich weiß nicht, was. Ich glaube, es hatte mit
dem Hafenentwurf zu tun. Er war nicht damit einverstanden. Leider kann ich es nicht
genauer sagen. Worüber wir noch gesprochen haben? Lassen Sie mich überlegen“. Sie
fasst sich ans Kinn und stützte sich mit dem Ellbogen auf die Armlehne des
Sessels. Ich wurde der Königin vorgestellt, die perfekt Englisch sprach, und
unterhielt mich mit ihr über die bewundernswerten baulichen Details des Magma.
Sie kannte John von anderen Gelegenheiten, und da sie viel Zeit in London
verbringt, wie alle Welt weiß, hatten wir gemeinsame Freunde, über die wir eine
Weile plauderten.“
-
„Können Sie mir sagen, ob Ihr Mann irgendeine
Arbeitsroutine hatte?“
-
„Eine Arbeitsroutine“, wiederholte sie nachdenklich.
Sie stand auf und legte sich erneut an den Rahmen des Fensters, das nach außen
zeigte. Sie zitterte fast unmerklich, fasste sich an die Stirn und fuhr fort: „Wie
eigenartig das alles ist. Sie fragen mich nach seinen Routinen, und ich
versuche immer noch, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass …“
-
„Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen,
aber es ist wichtig, dass Sie versuchen, sich an alles Mögliche zu erinnern.“
Alicia Scott drehte sich zu mir um, ging nachdenklich zum Esstisch und
nahm gedankenverloren einige bunte Murmeln, die als Dekoration in einer Schale
lagen. Sie hielt sie in der linken Hand und ließ sie aneinander schlagen,
sodass sie leicht klimperten. Dann legte sie sie zurück an ihren Platz, und es
wurde wieder still. Alicia Scott schaute mich an.
-
„Sie sagten, Sie heißen Anchieta, Inspektorin?“
-
„Ja, María Anchieta. Sie können mich María nennen.“
-
„María, jetzt, wo Sie mich fragen ... Er hatte
schon einige etwas merkwürdige Routinen.“
-
„Wie zum Beispiel?“
-
„Er benutzte immer Laptops, hatte aber zwei. Auf
einem verwendete er eine E-Mail-Adresse auf meinen Namen, an die er alle
E-Mails als Blindkopie verschickte. Er meinte, das sei eine andere Art, sie
abzuspeichern und als Belege aufzubewahren, falls mal jemand an ihrer Existenz
zweifeln sollte. Dieser Laptop befindet sich in London, in unserem
Schlafzimmer; der andere wird vermutlich hier bei seinen Sachen sein.“
-
„Interessant. Er benutzte also Ihre E-Mail-Adresse
als eine Art Sicherheitskopie.“
-
„So kann man es wohl sagen. Er war wie besessen von
der Sicherheit der E-Mails und davon, nichts Wichtiges zu verlieren.“
-
„Können Sie sicherstellen, dass niemand seinen
Laptop in London anfasst, bis wir ihn untersuchen können?“
-
„Klar, machen Sie sich keine Sorgen. Er steht stets
verschlossen in meinem Ankleideraum. In Wirklichkeit weiß niemand, dass dieser Computer
etwas mit John zu tun hat; es ist meiner. Es weiß auch niemand, wo ich ihn
aufhebe, denn diesen Bereich meines Ankleideraums betrete nur ich.“
-
„Haben Sie mal jemandem von der Angewohnheit Ihres
Mannes erzählt, eine Kopie seiner E-Mails an Sie zu verschicken?“
-
„Ich glaube, nein, nie. Warum fragen Sie?“
-
„Momentan scheint es eine wichtige Information zu
sein, von der sonst besser niemand erfahren sollte, ja? Erinnern Sie sich noch
an eine andere Routine?“ Ich kam nicht umhin, mir die Größe von Mrs Scotts
Ankleideraum vorzustellen.
-
„In London gingen wir immer morgens und abends
spazieren; das war seine einzige körperliche Betätigung. John sagte, es
entspanne ihn und helfe ihm, zu sich selbst zu finden und klar zu denken.“
-
„Glauben Sie, dass er hier auch spazieren zu gehen
pflegte und ihn sein Mörder bei seinem üblichen Spaziergang antraf?“
-
„Kann sein. Er ging meist allein spazieren, aber
gestern Abend war vermutlich sie dabei.“ Sie schaut zu Boden und drückte dann
die Zigarette in einem gläsernen Aschenbecher voller Strandsand aus.
-
„Kannten Sie die ... die Geliebte ihres Mannes?“
-
„Ja, Malena. Ich habe sie vor etwa vier oder fünf
Jahren in London vorgestellt. Sie war die gute Freundin einer Freundin, einer
Geschäftspartnerin meines Manns.“ Sie schaute auf ihre Hände und saß
auf
dem Rand des Sessels. „Sie war eine Freundin von Salma, Salma Kubichet, der CEO
in einer von Johns Firmen und eine seiner Geschäftspartnerinnen. Sie kannte
sich aus Brasilien.“ Sie schwieg nachdenklich.
-
„Es muss sie geärgert haben, als …“
-
„Als sie eine Affäre begonnen haben?“, fragte sie
mich geradeheraus. „Es war nicht das erste Mal. Ich hatte mich bereits an seine
Flirts gewöhnt.“
-
„Und es macht Ihnen nichts aus?“
-
„Damals nicht mehr so sehr.“ Sie stand auf, ging
ein paar Schritte und lehnte sich dann wieder eine Glastür. „Anfangs ist es mir
schwergefallen, es zu akzeptieren, aber dann … Ich habe wohl gemerkt, dass ich
ihn nicht ändern konnte. Wenigstens war Malena nett und verstand sich gut mit
meiner Tochter. Letztlich war mir das am wichtigsten: Helen sollte es gut
gehen, wenn sie ihre Ferien bei ihrem Vater verbrachte.“
-
„Sie scheinen nicht besonders überrascht vom Tod Ihres
…“
Sie riss ihre ungewöhnlich
blauen und strahlenden Augen weit auf und ließ mich den Satz nicht zu Ende
bringen.
-
„Natürlich bin ich traurig, betrübt, überrascht,
aber auch durcheinander und zugleich verblüfft.“ Sie schaute wieder zu Boden
und lehnte weiter am Türrahmen. „Ich habe ihn nicht gehasst, ich habe ihn
geliebt, auch wenn es schwer zu verstehen sein mag. Man kann jemanden so
lieben, das versichere ich Ihnen. Glauben Sie mir?“
-
„Sie scheinen ein sehr offenes moralisches
Verständnis vom Leben anderer zu haben, Mrs Scott. Aber ja, ich glaube Ihnen.
Ich verstehe, dass man jemanden trotz allem lieben kann.“
-
„Missfällt Ihnen das, Mrs Anchieta?
-
„Natürlich nicht. Es war nur eine Bemerkung. Sie
müssen verstehen, ich muss mir eine möglichst wirklichkeitsnahe Vorstellung
machen von … von allem, ... was mit ihrem Mann zu tun hat.“
-
„Klar, Sie suchen ein Motiv, einen Grund. Sie
können sicher sein, dass keine Eifersucht im Spiel war, jedenfalls nicht bei
mir.“
-
„Wissen Sie, ob er noch andere Geliebte hatte?“
-
„Nein, jetzt nicht. Früher hatte er welche, aber … Ich
weiß nicht.“
-
„Fällt Ihnen noch etwas zu den Arbeitsgewohnheiten
Ihres Manns ein?“
-
„Zu seinen Routinen? Er archivierte alles. Alle
Papiere, von denen er annahm, er könnte sie noch mal brauchen. Seit Jahren hat er
Unmengen an Ordnern – in London und auch hier, die er aber mit nach London
genommen hat.
-
„Kannte noch jemand diese Gewohnheiten?“
-
„Das weiß ich nicht. Das Archiv, von dem ich
spreche, ist in unserem Schlafzimmer. Wir haben zwei Schränke: einen für die
Kleidung und einen genauso großen für seine Papiere, also eigentlich eher ein
kleines Zimmer, ich weiß nicht, warum. Und der Laptop befindet sich in meinem
Ankleideraum. Das heißt, seine Sekretärinnen archivierten Tausende von Dingen in
seinem Büro in der Firma, aber ich spreche von Papieren, von denen er meinte,
er müsse sie in seiner Nähe haben. Ich bezweifle, dass sonst jemand aus seinem
Büro wusste, dass er all dieses Material zu Hause hat – oder hatte. Er hat es
persönlich archiviert und geordnet.“
-
„Denken Sie, jemand hatte einen Grund, ihn zu töten?“
-
„Ich weiß es nicht. Ich vermute, dass Geld immer
ein guter Grund ist. Und er hatte viel Geld.“
-
„Das gehört jetzt Ihnen, vermute ich.“
-
„Sein Privatvermögen, ja, aber nicht die Firmen.
Ich weiß nicht genau, was aus all dem wird. Ich habe noch keine Zeit gehabt,
daran zu denken, was ...“ Sie verstummte erneut und blickte wieder zum Fenster.
Sie hatte zu keinem Zeitpunkt ihren traurigen Gesichtsabdruck abgelegt.
-
„Sie haben erwähnt, dass Sie eine gemeinsame
Tochter haben.“
-
„Ja, Helen. Elena, wie man in Spanien sagen würde,
ist sieben Jahre alt.“
-
„Sie ist Ihre einzige Tochter?
-
„Meine, ja, ich habe nur Helen.“
-
„Und seine?“
-
„Nein er hatte noch zwei Söhne aus erster Ehe. Seine
Frau starb. Die Kinder sind 15 und 17 Jahre alt, also eigentlich keine Kinder
mehr. Sie leben bei uns, gehen aber derzeit woanders auf die Schule. Sie wissen
es noch nicht. Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll. Oder, wie …“ Ihr Blick
verlor sich wieder am Horizont des Meers.
-
„Sie hatten einen sehr bekannten Vater. Die
Nachrichten können davon berichten.“
-
„Ich weiß, es macht mir Sorgen. Ich muss sie
möglichst bald anrufen, aber …“ – sie wurde wieder nachdenklich – „ich weiß
nicht, wie ich es tun soll. Denken Sie, es wird ein Medienskandal?“, fragte sie
und drehte sich wieder zu mir um.
-
„Auf Teneriffa wird man darüber schreiben. Hier
gibt sonst keine Morde dieser Art, und Ihr Mann war ein sehr bekannter
Unternehmer, also wird dazu kommen, ja. Außerdem, und das wissen Sie selbst am
besten, sind Sie in London gesellschaftlich bekannt.“
-
„Seine Kinder sind das Einzige, worum ich mich
sorge.“
Sie starrte mich
an, schien aber in Wirklichkeit nicht mich anzuschauen, als ich ihr
öffentliches Leben erwähnte. Alicia Scott hatte sich verändert. Sie wirkte
jetzt sehr schlaff, abwesend und erschüttert. Ich vermutete, dass ihr die mühsame
Aufgabe, drei Kindern über das Geschehene zu unterrichten, unerträglich
erschien. Ich fand es sinnlos, die Befragung zu diesem Zeitpunkt fortsetzen zu
wollen.
Ich ließ sie in
ihrem Zimmer zurück und bat sie, es nicht zu verlassen, ohne mich zu
benachrichtigen. Wir machten aus, uns später wieder zu treffen. Ich rief Covadonga
an und bat sie, mich zur Suite von Becker und Donoso zu bringen.
An der Tür befand
sich das typische schwarz-gelbe Polizeiband, das für ein Fünfsternehotel nicht
sehr angemessen schien, momentan aber notwendig war, weil die forensische
Untersuchung noch nicht abgeschlossen war. Ich bat darum, allein gelassen zu
werden und wollte einen ersten Eindruck davon gewinnen, wie Becker gelebt hatte.
Wenn ich den privaten Bereich eines gerade verstorbenen Menschen betrat, befiel
mich immer eine gewisse Unruhe. Als Erstes fiel mir das Licht auf. Die Suite
hatte große Fenster, durch die man das von Wellen überzogene, glänzende Meer
sah, das sich am Horizont verlor. Es war seltsam, wunderschön Hotelzimmer mit
zwitschernden Vögeln und Sonnenstrahlen bis auf meine Füße zu betreten und
gleichzeitig zu wissen, dass der letzte Gast vom Tod für immer von alldem entrissen
worden war. Die Inneneinrichtung war jedoch auffallend unpersönlich für einen
Ort, an dem Becker so viel Zeit verbracht hatte. Eine der Glastüren war ein
wenig geöffnet und eine Gardine schlug in der Meeresbrise Wellen. Im Zimmer war
es bis auf das Rascheln der Gardinen still. Ich wusste nicht, was ich dort zu
finden hoffte. Ich kannte Beckers Gewohnheiten nicht, und es war
offensichtlich, dass der Reinigungsdienst am Vortag als Letzter hier Hand
angelegt hatte, denn auf den ersten Blick schien nichts fehl am Platz zu sein.
Nur eine Tasse Kaffee auf dem Beistelltisch neben einem großen weißen Sessel hatte
roten Lippenstift am Rand. Malena Donosos letzter Kaffee, dachte ich, und fand
es zugleich merkwürdig. Um wie viel Uhr sie ihn wohl getrunken hatte? Ich holte
ein Paar Gummihandschuhe aus der Tasche, zog sie an und nahm die Tasse. Auf dem
Tassenboden war ein dunkelbrauner, trockener Rest, der noch ein leckeres,
bitteres Aroma verströmte. Der Geruch nach Kaffee vermischte sich mit dem süßen
Duft eines Parfüms. Ich ging in Richtung des Hauptschlafzimmers durch das
Wohnzimmer, das fast vollständig von zwei großen Sesseln und einem Sofa
beherrscht wurde. Das Kingsize-Bett war perfekt gemacht und mit sechs großen,
weichen Kissen bedeckt; alles war weiß und strahlend sauber. Zwei Nachttische
voller Bücher und Zeitschriften standen auf beiden Seiten des Kopfteils. Ich
schaute mir das Cover des ersten Buches an; die anderen würde ich später
untersuchen. Es war „Doctor Copernicus“ von John Banville, natürlich auf
Englisch. War das seine Bettseite oder ihre? Ich ging um das Bett herum auf die
andere Seite. Dort lagen Gedichtbände, Romane und Modezeitschriften. Ich
vermutete, dass dies Donosos Seite war. Ein Buch, das hervorstach, hieß „Que
farei quando tudo arde?“, war von Antonio Lobo Antúnez und auf Portugiesisch.
Besonders auffällig waren jedoch die Gedichtbände, von denen ich meinen Blick
nicht lösen konnte: Rosalía de Castro, Emily Dickinson, Gabriela Mistral und
Sor Juana Inés de la Cruz. Interessant, dachte ich. Vor dem Bett, zum Meer hin,
stand noch ein weiterer Tisch, der als Arbeitsplatz diente und mit Papieren
übersät war. Es war kein Computer zu sehen, und kein Ordner. Nur lose Blätter
und ein eleganter Strauß imposanter, roter Rosen auf jenem improvisierten
Schreibtisch. Mein Blick fiel auf eine schwarze Akte im Querformat mit
schwarzer Spirale und der Aufschrift „Luxus-Sporthäfen, Becker & Partners“.
Ich würde mir alle Dokumente später genauer ansehen, sagte ich zu mir selbst.
Der Schrank war ebenfalls weiß, mit vier Türen versehen und steckte voll gut
geordneter Markenkleidung und teuren Schuhen. Ich erspähte ein paar rote Schuhe
von Jimmy Choo, ein paar schwarze Schuhe von Gucci und die schon klassischen blauen
Pumps von Manolo Blahnik, verziert mit weißen und silbernen Strasssteinen, die
durch die Serie „Sex and the City“ so in Mode gekommen waren. Es war
offensichtlich, dass Donoso Beckers Geld gut einzusetzen wusste. Das oberste
Regal enthielt mehrere Ordner. Rechts führte eine weiße Tür ins Badezimmer, wo ein
schräges Fenster zum Meer zeigte. Ich ging hinein und sah auf dem Waschbecken
eine goldene Make-up-Box, eine weitere, durchsichtige Puderbox von Lancôme, eine
indigoblaue Cremedose von La Prairie und ein Parfüm von Dior. Der
charakteristische Duft der Damen-Toilettenartikel erinnerte mich auf einmal
vage an meine Jugend. Das Waschbecken war makellos weiß, in der gesamten Suite vorherrschende
Farbe. Die perfekt versilberten Armaturen glänzten, der Marmor schillerte und
der Spiegel war perfekt und tadellos sauber und bedeckte die gesamte Wand bis zur
Decke. Ich sah mich im Spiegel und zwang mich, eine gerade Haltung anzunehmen.
Ich betrachtete mich eine Weile: ein einfaches weißes Shirt, ein Basic von
H&M, und eine schwarze Jeans von Zara, so stand ich nachdenklich vor dem
Spiegel. Die Badewanne mit Dusche war sauber, und die Handtücher perfekt
gefaltet. Ich ging wieder zurück ins Wohnzimmer und rief vom Handy aus Marina
an.
-
„Frau Kommissarin, ich bin in Beckers Zimmer im
Jardín Tropical. Ich weiß ja, dass es nicht der Tatort ist, aber es gibt hier
so viele Papiere, dass meiner Meinung nach mal schleunigst jemand von der
Forensik vorbeischauen sollte. Außerdem ist kein Computer da, obwohl die Witwe
erwähnt hat, er sei für ihren Mann im Alltag unentbehrlich gewesen.“
-
„In Ordnung. Benachrichtige du die Forensiker in
meinem Namen. Ich rufe bei Gericht an, damit der Richter die Erlaubnis erteilt.
Sonst noch was?“
-
„Nein, vorerst nicht. Ich verschaffe mir gerade
einen ersten Eindruck von allem.“
-
„Mit möchte heute Abend einen vollständigen
Bericht“, sagte sie routiniert, während sie vermutlich schon mit etwas anderem
beschäftigt war.
-
„Ok, wird gemacht.“
Ich rief die
Forensiker an und kehrte zurück auf mein Zimmer, um auf sie zu warten. Ich
legte mich aufs Sofa und musste wohl eingeschlafen sein, denn das Handyklingeln
weckte mich auf; es waren die Forensiker. Auf meiner Hublot-Uhr war es genau zwanzig
Uhr. Während sie arbeiteten, nahm ich mein Notizbuch und versuchte, die
Umstände des Falls, die Liste der zu befragenden Personen und die Anfangsfragen
schriftlich festzuhalten. Ich hatte wenig zu schreiben. Derart schnell konnte
ich weder Fortschritte noch einfach so Inspiration erwarten. Ich beschloss,
meine ersten Gedanken mit Pérez Fuentes zu teilen und rief ihn an. Der
Unterinspektor bemühte sich gerade, das Büro zu verlassen, um trotz des
Papierkrams in den Süden fahren zu können. Ich sagte ihm, das sei nicht nötig
und er solle lieber morgen früh kommen.
-
„Ich weiß, dass diese anfänglichen Fragen
wahrscheinlich nichts bringen werden, aber ich möchte sie gerne laut vorlesen,
um zu hören, was Sie davon halten.“
-
„Ja, klar, machen Sie nur, Frau Inspektorin“,
antwortete er wie immer sehr förmlich.
-
„Wissen Sie, Fuentes, ich habe mich zunächst nach
dem Motiv für das Verbrechen gefragt. Geschah es aus Leidenschaft? Nach dem
Gespräch mit der Witwe glaube ich das nicht. Zumindest nicht von ihrer Seite,
denn sie wusste und akzeptierte, dass Becker eine Geliebte hatte. Geld?
Habgier? Macht? Oder Rache? Hat irgendetwas davon zum Mord geführt? Oder zu
beiden Morden? Sind sie miteinander verbunden oder war es Zufall, dass man sie
zusammen antraf? War es das Werk eines Verrückten oder doch geplant? Was hat es
zu bedeuten, dass sie statt auf offener Straße im Beachclub aufgetaucht sind?
Warum hatte man sie im Pool hinterlassen? Waren sie hineingefallen oder hatte
man sie dort drin getötet? Ist die Reihenfolge – ich vermute, erst wurde Malena
ermordet, und dann Becker – von Bedeutung?
-
„Frau Inspektorin, mit der Hälfte der Fragen kann
ich nichts anfangen, denn ich bin noch nie in diesem Beachclub gewesen, den sie
erwähnen. Eigentlich verwirren mich Ihre Fragen eher. Ich konnte mich noch
nicht so sehr mit dem Fall befassen, weil er heute hier wild zuging. Ich weiß
nicht einmal, wer dieser Becker war.“
-
„Nein? Ich dachte, er war bekannt auf der Insel.“
-
„Nein, weiß nicht. Ich habe noch nie von ihm
gehört. Und wie gesagt, uns steht die Arbeit bis zum Hals, Frau Inspektorin.“
-
„Ich weiß, aber ich bespreche die Anfangsfragen mit
Ihnen, weil ich ein Problem, eine methodische Frage, habe“, sagte ich, ohne auf
seine Beschwerde über die viele Arbeit einzugehen.
-
„Sagen Sie mir, was es ist, Frau Inspektorin. Mal
sehen, ob ich Ihnen helfen kann“, sagte er geduldig.
-
„Mein Problem ist zu wissen, wo ich anfangen soll“,
sagte ich nachdenklich.
-
„Aber, Frau Inspektorin, das passiert Ihnen immer. Dabei
merken Sie gar nicht, dass Sie schon angefangen haben. Nach dem, was Sie mir
erzählt haben, haben Sie den Tatort aufgesucht. Das muss man als Erstes tun.
Sie haben die Witwe befragt und waren zu Hause, wenn man das Hotelzimmer der
Opfer so bezeichnen kann. Was wollen Sie noch? Das alles haben Sie an einem Tag
vollbracht.“
-
„Wie ich sehe, sind Sie mir heute keine große
Hilfe, Fuentes.“ Manchmal benutzte ich nur seinen zweiten Nachnamen. „Wir
verschieben es besser morgen. Die Forensiker sind hier. Sobald sie alle ihren
Ordner von Becker untersucht haben, hoffe ich, dass wir einen Blick darauf
werfen können. Ich weiß nicht, wie wir es anstellen sollen.“
-
„Sagen Sie nichts, ich will gar nicht daran denken.
Ich hoffe, heute bald ins Bett gehen zu können, denn ich meine, vorauszusagen
zu können, dass wir diese Woche mal wieder wenig Schlaf bekommen werden. Ich
weiß nicht, was in letzter Zeit auf Teneriffa los ist, aber wir haben ständig
neue Fälle. Wir sind überfordert und haben in den letzten zwei Monaten eben
Fälle von Drogenhandel bearbeitet. Der Regierungsbeauftragter ist auf 180 und
macht uns Druck. Also tun wir uns am besten aus, solange wir können.“
-
„Sie haben recht. Ich werde auch versuchen zu
schlafen. Bis morgen, Nicolás.“
-
„Bis morgen, Chefin. Wir sehen uns Punkt acht im
Süden.“
-
„Da werden Sie früh raus müssen, Fuentes.“
-
„So ist das Leben von uns Bullen“, scherzte er.
-
„Bitte verspäten Sie sich nicht. Seien Sie
pünktlich. Das ist wichtig, weil ich sonst Stress bekomme. Gute Nacht.“
Ich kehrte zurück
zu meiner Liste und fügte weitere Fragen hinzu, die jedoch alle um die erste
kreisten. Wo sollte ich anfangen? Vielleicht mit dem verschwundenen Computer? Ich
grübelte noch, als mich Marina Tabares anrief.
-
„Ich habe schon die richterliche Verfügung. Der
Richter hat sie mir gefaxt. Sie ist allgemein genug gehalten, um aus dem Zimmer
mitnehmen zu können, was dir für den Fall interessant erscheint. Aber versuch,
die Forensiker nicht mit Arbeit zu überhäufen, wenn du Ergebnisse willst.“
-
„In Ordnung, Chefin. Ich bin gerade dabei, eine
Liste mit offenen Fragen zu erstellen.“
-
„Dafür ist es noch zu früh, María. Ermittle du erst
mal in die beiden üblichen Richtungen: das Familienumfeld und das Arbeitsumfeld
der Opfer.“
-
„Aber, Chefin, ich muss mich doch um die Leute aus
dem Hotel kümmern, die hier waren und verschwinden könnten. Sie könnten jederzeit
das Hotel verlassen, und schon heute Morgen sind etwa 15 Gäste in ihre Heimat
zurückgeflogen.“
-
„Ok, aber nur oberflächlich. Wenn sie weder
Vorstrafen haben noch eine Verbindung zu den Toten aufweisen, solltest du sie
schnell abhaken. Konzentrier dich auf die Verwandten, die Kollegen und
Geschäftspartner und auf die Familie. Damit liegt man nie daneben.“
-
„Per E-Mail haben Sie die Liste mit den Ausweisen
und Pässen der Hotelgäste erhalten. Können Sie sie schnellstmöglich überprüfen,
Chefin? Dann muss ich mir darum keine Sorgen mehr machen.“
-
„Klar, wird erledigt. Ist die Witwe schon da?“
-
„Ja, ich habe sie bereits befragt. Ich glaube
nicht, dass sie es war, aber ich werde an ihr dranbleiben.“
-
„Gut. Dann tschüss“, sagte sie energisch. „Ich habe
noch tausend Sachen zu erledigen.“
Die Forensiker
erledigten ihre Arbeit und kamen bepackt mit Kisten mit allen Papieren Beckers
heraus. Sie versprachen mir, sie so schnell wie möglich zu bearbeiten und mir
Bescheid zu sagen, sobald ich sie abholen könnte, um ihren Inhalt zu
untersuchen. Als ich auf die Uhr sah, war es bereits halb zehn am Abend. Ich
merkte, wie hungrig ich war, denn ich hatte nicht zu Mittag gegessen. Ich rief
den Zimmerservice an und bestellte Club-Sandwich mit Tomate, Mayonnaise,
Spiegelei, Schinken und Käse und ein Glas Rotwein aus Ribera del Duero. Ich
wartete und schaute bis Viertel vor elf fern und entschied dann, erneut zum
Tatort runterzugehen. Wie ein Hotelgast überquerte ich die leeren Poolterrassen,
ging durch die Unterführung und gelangte auf die Promenade. Ich betrat den Beachclub,
der noch geöffnet war, ging die Treppe aus Stein und Tonfliesen hinunter und
kam zum Restaurant. Eine letzte Gruppe von Gästen lachte noch an einem Tisch,
der am Rand des Meers stand. Die Kellner warteten mit müden Gesichtern darauf,
dass sie gingen. Ich holte meinen Ausweis heraus, als einer von ihnen mich
ansprach, und erklärte ihm, ich wolle mich nur wegen der Morde umschauen. Er
ließ mich machen. Also durchstreifte ich den mittlerweile leeren Beachclub. Der
Naturpool wurde gerade geleert und enthielt gerade noch 20 bis 25 cm Wasser.
Ich spazierte nach rechts und betrachtete den Ort, um mir vorzustellen, wie
sich letzte Nacht alles zugetragen haben mochte. Es wehte eine leichte Brise,
die den Salzgeruch des Meeres mit sich brachte. Ich verfahre so, wie es
angeblich Mörder tun, und habe die fixe Gewohnheit, immer wieder den Tatort aufzusuchen;
wenn möglich, zur gleichen Zeit wie die Tatzeit, um so womöglich etwas zu
sehen, was die anderen nicht sehen. Ich beschloss, mit den Kellnern zu
sprechen. Einer von ihnen hatte in der letzten Nacht Dienst, der andere nicht.
Der Koch war bereits gegangen, erzählte er mir. Er beteuerte, nichts gesehen zu
haben. Sie hatten genau um dreiundzwanzig Uhr geschlossen, da die Gäste am
Vorabend früh gegangen waren – anders als heute, wie er mit einem verärgerten
Blick auf das Pärchen am letzten noch belegten Tisch meinte. „Wir haben nichts
gesehen“, sagte der andere im Plural, „und haben die Tür oben wie jede Nacht
verschlossen.“ Ich drehte noch ein paar Runden und stellte mir vor, was
passiert war. Ich stellte mir den Moment vor, als sie starben: Malena und
Becker waren vermutlich heruntergekommen, um hier spazieren zu gehen. Das war
etwas ungewöhnlich, weil es kein richtiger Spazierweg war, aber vielleicht betrachteten
sie ihn als Teil der Hotelanlage und kamen öfter her. Unter Umständen wählten
sie immer den gleichen Weg, und der mögliche Mörder oder die möglichen Mörder folgten
ihnen an einigen Abenden vor der Tat. Seltsam war allerdings, dass sie da drin,
im Pool, ohne irgendwelche weiteren Schlagspuren gefunden wurden. Der Mörder
musste sie also gezwungen haben hineinzugehen, aber wie war das möglich?
Vielleicht hatten sie oder er etwas gesehen und waren hineingestiegen, um
nachzuschauen, was es war, und dann tauchten die Mörder auf? Ich entschied, Marina
anzurufen und mit ihr darüber zu besprechen, wie wir es bei schwierigen Fällen
zu tun pflegen.
-
„Marina, Entschuldigung, ist es zu spät?“
-
„Nein, was gibt’s? Ich bin noch im Kommissariat und
lese unzählige Papiere. Gerade habe ich übrigens das Ergebnis der Überprüfung
deiner Passliste bekommen. Keine Vorstrafe oder relevante Informationen und
anscheinend keine Verbindung zu den Opfern. Tut mir leid, aber hier gibt es
keine Spur, die sich verfolgen ließe.“
-
„Tja, das dachte ich mir. Es fehlen noch die 15
abgereisten Gäste. Sobald ich die Liste habe, schicke ich sie Ihnen. Chefin,
ich bin gerade am Pool, wo es geschah.“
-
„Schieß los.“
-
„Ich finde, dass an den Morden etwas seltsam ist.
Es ist ungewöhnlich, dass sie zum Pool runtergegangen sind, denn der Beachclub
gehört nicht zur Promenade. Und erst recht ist ungewöhnlich, dass sie in den
Pool gestiegen sind. Man muss sie dazu gezwungen haben.“
-
„Warum so kompliziert?“
-
„Ich weiß nicht. Vielleicht befand sich der Mörder
im Pool, geduckt unter einer der Brücken, und benutzte irgendeinen Köder.“
-
„Du denkst also, er wusste, dass sie vorbeikommen
würden?“
-
„Ja, so muss es gewesen sein. Wie sonst wäre es
möglich gewesen?“
-
„Vielleicht ist man ihnen gefolgt.“
-
„Ja, daran habe ich auch gedacht. Doch laut den
bisher befragten Personen wusste niemand im Hotel, dass sie für gewöhnlich hier
entlangspazierten. Das ist komisch, denn der Bereich gehört nicht zur Promenade
und wird abends gegen dreiundzwanzig Uhr geschlossen.“
-
„Hast du die Mitarbeiter vor Ort befragt?“
-
„Sie haben nichts gesehen.“
-
„Aber hast du auch nach den Gewohnheiten der Opfer
gefragt?“
-
„Ich gehe gleich noch mal zu den Kellnern, Chefin,
aber ich wollte etwas anderes mit Ihnen besprechen. Beckers Computer ist
spurlos verschwunden.“
-
„Was sagen die Forensiker?“
-
„Die Ergebnisse für das Zimmer liegen noch nicht
vor. Die Forensiker haben gestern Abend gegen zweiundzwanzig Uhr das gesamte
Material mitgenommen.“
-
„Ein Diebstahl ist für dich vollkommen
ausgeschlossen?“
-
„Ein ganz normaler Diebstahl?“
-
„Ja.“
-
„Daran glaube ich nicht, aber ich habe auch nicht
genug Informationen. Ich glaube, die beiden kamen für gewöhnlich hierher und
wurden erwartet und umgebracht. Vielleicht war es wegen etwas, das sie dabei
hatten, aber ich bezweifle es.“
-
„Stimmt, die Umstände deuten nicht auf einen
einfachen Raub hin. Noch mal zum Computer. Bist du sicher, dass er gestohlen
wurde?“
-
„Nein, sicher bin ich gar nicht, aber er ist nicht
da, und Beckers Frau meint, ihr Mann habe immer am Laptop gearbeitet.“
-
„Vielleicht hat er ihn zur Reparatur eingeschickt.“
-
„Das wäre schon ein großer Zufall.“
-
„Ausschließen darfst du nichts.“
-
„Natürlich nicht. Vielleicht hatte er ihn ja dabei,
um an etwas zu arbeiten.“
-
„Um diese Zeit?“
-
„Ich weiß nicht, kann ja sein. Komisch ist, dass
sonst nichts verschwunden ist. Na ja, ist nur eine Vermutung. Ich gehe noch mal
zu den Kellnern. Ruhen Sie sich aus, Frau Kommissarin.“
-
„Gleichfalls, María. Gute Nacht.“
Ich sprach mich
noch einmal mit dem anderen Kellner, der am Vorabend nicht da gewesen war. Er
war Portugiese, und wir unterhielten uns anfangs in seiner Sprache. Ich fragte
ihn, ob er Herrn Becker und Frau Donoso kannte.
-
„Die Ermordeten? Ja, ich kannte sie. Sie kamen
manchmal her, sowohl tagsüber als auch abends. Sie liebte diesen Pool. Wir
unterhielten uns auf Portugiesisch, denn sie war Brasilianerin und ich komme aus
Porto und wir vermissten beide unsere Sprache.“
-
„Worüber haben Sie gesprochen?“
-
„Ihr gefiel es, dass das Wasser so sauber und kalt
war und dass es täglich ausgewechselt wurde. Deshalb fand sie diesen Pool besser
als die anderen oben.“
-
„Hatten die beiden eine feste Angewohnheit?“
-
„Nein, aber an manchen Abenden kamen sie nach dem
Abendessen her und setzten sich auf einen Drink an einen Tisch dort am Rand des
Meers.“
-
„Wissen Sie noch, um welche Uhrzeit?“
-
„Es war keine feste Uhrzeit, aber so etwa zwischen zwanzig
und zweiundzwanzig Uhr. Sie wissen ja, dass Engländer früh zu Abend essen.“
-
„Wann kamen sie zum letzten Mal her?“
-
„Ich weiß es nicht mehr.“ Er überlegte und blickte
in die Ferne. „Tut mir leid. In letzter Zeit nicht mehr, sonst würde ich mich
erinnern.“
-
„Arbeiten Sie schon lange hier?“
-
„Erst sieben Monate.“
-
„Wissen Sie, ob sie manchmal herkamen und Sie
bereits am Schließen waren? Oder um welche Zeit sie gewöhnlich kamen?“
-
„Es war nie zur Sperrstunde, soweit ich mich
erinnere.“
-
„Wie waren sie üblicherweise gekleidet? Wie für ein
Abendessen oder …“ Ich ließ den Satz absichtlich offen.
-
„Das weiß ich noch genau. Sie kamen mit legerer,
sportlicher Kleidung, als ob sie von einem Spaziergang kämen. Manchmal waren
sie müde, vor allem Herr Becker.“
-
„Ging er auch runter, um im Pool zu baden?“
-
„Selten. Eher im Sommer. Jetzt im Herbst kam sie
allein.“
-
„Vielen Dank.“ Wir gaben uns zum Abschied die Hand
und ich nickte seinem Kollegen zu.
Kurz nach vierundzwanzig
Uhr ging ich die dunkle Treppe zur öffentlichen Promenade hinauf und folgte ihr
bis zum Puerto Colón, wo Hunderte Motorboote, kleine Jachten und Katamarane im
Schutz der Molen zwischen blinkenden Lichtern ruhten und man hörte, wie die
Taue aneinanderschlugen und die Stege auf die Wasseroberfläche klatschten. Dann
ging ich zurück in Richtung des Playa del
Troya und kam an einigen beleuchteten Restaurants vorbei, von denen einige
noch geöffnet waren und andere gerade schlossen. Ich versuchte, das Ambiente
mit der flackernden Beleuchtung auf mich wirken zu lassen. Die wenigen
Menschen, auf die ich traf, spazierten gemütlich. Die Nacht war ruhig und
angenehm und es wehte kaum eine Brise. Ein perfekter Novembertag im Paradies
der faszinierenden Kanarischen Inseln. Gegen halb eins ging ich zurück auf mein
Zimmer. Es war sinnlos, weitere Runden zu drehen. Ich setzte mich auf eines der
Sofas und schlief vor den Nachrichten, die wie immer bestürzend waren, ein.
Mitten in der Nacht stand ich vom weißen Sofa auf, um ins Bett zu gehen. Die Vorhänge
waren aufgezogen, und es war fast kein Mondschein zu sehen. Ich öffnete die
Glastür und trat auf den Balkon, wo ich die frische, feuchte Stille einer
Herbstnacht spürte. Das Meer erstrahlte fast im gleichen schwarzen Glanz wie
der Himmel. Eine Wolke zog langsam über den stark abnehmenden Mond und der
Glanz des Meers verschwand. Ich bemerkte ein schwaches, kleines Licht, das sich
durch die Grünanlage der Pools zu meinen Füßen bewegte. „Das muss der
Nachtwächter sein“, dachte ich. Ich ging wieder rein, zog die Vorhänge zu und
stellte den Wecker auf sechs Uhr. „Mal sehen, wie der Tatort im Morgengrauen
aussieht“, sagte ich zu mir selbst und kroch nackt ins Bett.
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